Heute schon Impostor-Syndrom erlebt?

Liebe Herren der Schöpfung, hattet ihr schon mal das Gefühl nicht gut genug für etwas zu sein? Hattet ihr schon mal Selbstzweifel im beruflichen Kontext? Oder gar das Gefühl, dass all eure Errungenschaften eine einander Reihung von glücklichen Zufällen waren und ihr im Grunde diese Erfolge nicht verdient habt?

Wenn ja, dann willkommen in der Welt des Impostor-Syndroms (auf Deutsch: Hochstaplersyndrom). Etwa 70 % aller Frauen haben schon mal Bekanntschaft mit dem Impostor-Syndrom gemacht. Laut Wikipedia ist das Impostor-Syndrom „…ein psychologisches Phänomen, bei dem Betroffene von massiven Selbstzweifeln hinsichtlich eigener Fähigkeiten, Leistungen und Erfolge geplagt werden und unfähig sind, ihre persönlichen Erfolge zu internalisieren. Trotz offensichtlicher Beweise für ihre Fähigkeiten sind Betroffene davon überzeugt, dass sie sich ihren Erfolg erschlichen und diesen nicht verdient haben (…) Von Mitmenschen als Erfolge angesehene Leistungen werden von Betroffenen dieses Syndroms mit Glück, Zufall oder mit der Überschätzung der eigenen Fähigkeiten durch andere erklärt. Bei manchen dieser Menschen sind diese Selbstzweifel derart ausgeprägt, dass sie sich selbst für Hochstapler halten und in der ständigen Angst leben, andere könnten ihren vermeintlichen Mangel an Befähigung bemerken und sie als Betrüger entlarven.“

In verschiedenen Medienquellen werden den Frauen durch Tipps von Experti:nnen bis hin zu teurem 1:1 Coaching-Sessions weiß gemacht, dass sie selbst für ihren internalisierten Selbstzweifeln verantwortlich sind. Sehr wenige Quellen betrachten die gesamtgesellschaftliche Ebene als Ursache. „Stop telling women they have Impostor“ fordern etwa die Autorinnen Ruchika Tulshyan und Jodi-Ann Burey in der Harvard Business Review. „Das Impostor-Syndrom lenkt unseren Blick darauf, berufstätige Frauen zu ‚reparieren‘, anstatt die Orte zu reparieren, an denen Frauen arbeiten“, schreiben sie.

Denn das geringe Selbstwertgefühl der Betroffenen hat eine lange Geschichte, die eng mit den sozialen, kulturellen und familiären Gegebenheiten verbunden ist. In einer Gesellschaft, die stark von patriarchalen Strukturen geprägt wird, wurde Frauen jahrhundertelang suggeriert, dass sie ausschließlich für bestimmte Rollen vorgesehen sind. Nämlich überwiegend die im häuslichen Umfeld. Trotz der feministischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte beeinflusst dieses Verhalten immer noch, teilweise im Unterbewusstsein, unser Verhalten und unser Denken. Lasst uns dieses Phänomen anhand ein paar Beispiele konkretisieren:

Die Erziehung in bestimmten Rollenmustern fängt schon in der Kindheit an. Jungs werden risikofreudiger erzogen, die dazu führt, dass sie sich für Stellenanzeige, die nur 50 % ihrer Qualifikationen erfüllen bewerben, nach dem Motto, die anderen 50 % lerne ich im Job. Mädchen werden zu Perfektionistinnen erzogen, welches dazu führen kann, dass sie sich nicht für eine Stellenanzeige bewerben, die nicht 100 % ihrer Qualifikation entspricht. Während Männer sich tendenziell überschätzen, neigen Frauen dazu, ihre Leistungen zu unterschätzen. Es ist beängstigend zu sehen, wie tief diese Vorstellungen in uns verankert sind, oft ohne, dass wir es wahrnehmen. Auch die Sprache spielt eine große Rolle. Wenn wir vom „Arzt“ sprechen, dann haben wir einen weiß gelesenen, europäischen cis Herrn, mittleren Alters, vor dem inneren Auge und selten eine kopftuchtragende junge Frau mit einem nicht europäisch klingenden Namen.

Zur Bekämpfung des Impostor-Syndroms raten einige dieser Quellen dazu, sich mit Menschen und Vorbildern zu umgeben, die einen inspirieren und stärken. Was macht Frau aber, wenn gar nicht so viele Vorbilder in ihrem Bereich präsent sind? Dieser Mangel an Repräsentation führt dazu, dass gerade Frauen mit Migrationsbiografien noch stärker mit dem Impostor-Syndrom zu kämpfen haben. 

Frauen mit Migrationshintergrund, insbesondere diejenigen, die als Pionierinnen in ihrer Familie ein Studium aufnehmen, sind aufgrund der Abwesenheit eines elterlichen Netzwerks und fehlender Vernetzung im akademischen Kreisen oft benachteiligt. Wenn sie es erstmal reingeschafft haben, dann fühlen sie sich oft aufgrund mangelnder Diversität dieser doch sehr homogen zusammengesetzten Gruppen fehl am Platz. Dazu kommt, dass Zuschreibungen und Annahmen über sie getroffen werden und sie der Mehrfachdiskriminierung ausgesetzt sind. Diese Barrieren sind oft unsichtbar, mitunter auch für die Betroffenen. Jedoch haben sie fatale Folgen gesamtgesellschaftlich. Es ist von elementarer Bedeutung, dass nicht nur im Unternehmenskontext, sondern in der Politik, Kultur und sozialen Kreisen Hauptaugenmerkmal auf eine diverse Zusammensetzung der Akteure gelegt wird. Institutionen müssen in Zeiten von Fachkräftemangel bewusst Vorbilder aufzeigen, die anschlussfähig für die Lebensrealität von Viele, insbesondere Frauen mit Migrationsbiografie sind. Diese Vorgehensweise kann Selbstzweifel oder Unsicherheit bei den Frauen verringern, Mut machen und zeigen: Es ist möglich. Frauen mit Migrationsbiografie bringen zusätzliche Kompetenzen mit sich, die unsere Gesellschaft bereichern. Dazu gehört die Anpassungsfähigkeit zwischen mehreren Kontexten und Welten, Resilienz, Lernbereitschaft und Mut, Neues zu wagen! 

Also, liebe Herren der Schöpfung, wenn wir alternativlos faire Chancen für alle wollen, dann reicht es nicht, dass die Frau Coaching-Sessions beansprucht, um ihr Impostor-Syndrom in den Griff zu bekommen. Es braucht eine Veränderung der gesamtgesellschaftlichen Strukturen in Bezug auf Herkunft und Identität, der Zugang zu bestimmten, privilegierten Räumen und die Verteilung von Macht und Ressourcen, verbunden mit einer intersektionalen Sichtweise. Wir brauchen euch und seien wir doch mal ehrlich, in Zeiten von Individualismus, Fachkräftemangel und multiplen Krisen braucht ihr uns auch!


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